»Der allgemeine Boden für die Komödie ist daher eine Welt, in welcher sich der Mensch als Subjekt zum vollständigen Meister alles dessen gemacht hat, was ihm sonst als der wesentliche Gehalt seines Wissens und Vollbringens gilt: eine Welt, deren Zwecke sich deshalb durch ihre eigene Wesenlosigkeit zerstören.«
Quelle
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Dritter Teil. Die Poesie. Hrsg. von Rüdiger Bubner. Stuttgart: Reclam 1971, S. 312f.
Schlagwort: Wesen
Zweifel und Gedanken zur Menschenwürde.
Obwohl sich die Menschenrechte auf die Annahme einer dem Menschen von sich aus innewohnenden Würde stützen, und obwohl beachtliche rhetorische und politische Anstrengungen unternommen werden, ihrer Gültigkeit überall auf dem Erdenrund zur Anerkennung zu verhelfen, ist ihr Fundament gerade dort brüchig geworden, wo es sie einst mit ihrem ganzem Gewicht tragen und in eine ihnen feindselig gesonnene Welt hinaus wachsen lassen konnte.
Ob es überhaupt eine dem Menschen von Natur aus zukommende Würde gibt, ist fraglich geworden. Unser Weltbild hat sich seit einer Weile erheblich verändert, die Konstellation unserer althergebrachten Grundbegriffe dergestalt verschoben, dass manche von ihnen isoliert zurückbleiben und lose durch den Raum der Ideen schwanken. Die Menschenwürde ist eine solcher heimatvertriebenen Ideen.
Diese Einsicht ist nicht nur Philosophen zur Aufgabe geworden, sondern findet ihren wirkmächtigen Niederschlag auch in den Leitfäden zur Gesetzesinterpretation, so in dem neuen Kommentar zu Artikel 1 des Grundgesetzes von Matthias Herdgen, der 2003 den alten maßgeblichen Kommentar von Günter Dürig ablöste. Darin wird der Bezug zur natürlichen ›Wesenswürde‹ des Menschen aufgelöst und sinngemäß eine Hinwendung zur selbstbestimmten Ethik vollzogen. Statt auf ›metaphysische‹ Prinzipien beruft man sich auf eine gemeinschaftliche ›volonté générale‹. Wir wollen den Menschen würdigen, daher schreiben wir ihm Würde zu.
Dieser argumentative Wechsel ist mehr als verständlich. Er ist Ausdruck eines Zeitgeistes, der schon während der Ausarbeitung, Proklamation und Begründung der ›Würde‹ ihre Fundamente zweiflerische umwehte. Es ist nur konsequent, Prinzipien der kollektiven Daseinsgestaltung aus dem freien Willen der Menschen, nicht aus der Natur oder aus göttlichen Gnaden abzuleiten.
Und dennoch: Kann der gemeinschaftliche Wille eines Kollektivsubjekts oder der ›Eliten‹, der Rechtsgeber, Rechtssprecher, Rechtsexegeten den freien Intellekt des Individuums überzeugen? Was antworten die Repräsentanten des Staates dem Einzelnen, dem neu Hinzukommenden, wenn er fragt: Warum? Warum sollte ich in meinen Mitmenschen Würde anerkennen? Hat die Gesellschaft auf diese Frage gute Antworten parat oder kann sie nur ihre Übermacht vorweisen? Kann sie nicht nur sagen: »Wir wollen so. Entweder willst du, wie wir wollen oder handle wenigstens so, als würdest du wollen, wie wir wollen. Dich mit guten Argumenten zu überzeugen, das aber vermögen wir nicht.«
Anders ausgedrückt: Die Gesellschaft hat ein Problem, ihr Postulat von der menschlichen Würde zu begründen. Ihre Autoritäten können sie nur als Dogma setzen und ihre Anerkennung fordern. Das war früher anders, als man die Würde des Menschen mit seiner Vernunftbegabung, seiner Herausgehobenheit aus der Natur, seiner Gottebenbildlichkeit oder der Menschwerdung Jesu‘ ›begründen‹ konnte.
Meine Überlegungen zur Menschenwürde gehen vorläufig von der Annahme aus, dass a) eine Begründungsaporie im gegenwärtigen Diskurs um die Menschenwürde besteht, dass b) die aktuellen argumentativen Bezugnahmen auf die Würde des Menschen von einer willkürlichen Setzung, einem Dogma ausgehen müssen, und dass c) Dogmen sowohl philosophisch unzureichend als auch – auf lange Sicht – praktisch gefährlich sind, als da sie nur ›hart‹ vermittelt, d.h. mit heimlicher Gewaltandrohung durchgesetzt oder per Manipulation dem Einzelnen imprägniert werden können, und nicht ›weich‹ vermittelt, d.h. einem aufgeklärten Subjekt mit guten Gründen dargeboten, so dass es sie in Freiheit aus eigener Einsicht annehmen darf und soll.
Naheliegend wäre eine weitere Option, nämlich dass der Einzelne aus freiem Ermessen die ›volonté générale‹ übernimmt, schlicht weil er dem Gemeinwohl von sich aus und ohne weitere Begründung große Bedeutung beimisst. Würde wäre hier ein akzeptables praktisches Prinzip, das sich fraglos integrieren lässt. Für einen solchen Menschen gibt es keine moralischen Probleme außer solche, die sich in der detaillierten Abwägung einzelner ethischer Komponenten in konkreten Situationen erschöpfen. Wir wollen aber dem Zweifler begegnen, dem Zweifler in uns, der auch gute Gründe haben möchte statt bloß praktikable Setzungen.
Daher treibt uns die Frage um: In welchem Sinne gibt oder gibt es keine Menschenwürde? Woraus ließe sie sich herleiten? Was ist ihr argumentatives Fundament?
Die moderne Kritik an der Menschenwürde als ›Wesenswürde‹, also als ein jedem Menschen seines Wesens wegen zukommender Wert, adressiert die sogenannte ›Wesensphilosophie‹, die von einigen Gegnern geradezu mit ›Metaphysik‹ schlechthin gleichgesetzt wurde. Dieser Angriff ist richtig, wenn er auch Metaphysik unrechtmäßig auf eine einzige ihrer Gestalten reduziert. Richtig ist er, weil er an einer Zweideutigkeit im Begriff von ›Wesen‹ ansetzen kann, die in der auf Platon zurückgehenden Tradition von Anfang an problematisch war. Wesen – als ἰδέα – kann nämlich heißen:
- Das Was-Sein einer Sache. Alle einzelnen Menschen, die es je gab, die jetzt leben, und die noch geboren werden, sind Menschen. Man erkennt sie als solche wieder, in gewissem Maße unabhängig von ihrer individuellen Beschaffenheit. Ich muss nicht bei jedem Menschen, der mir begegnet, eine neue Gattung, eine neue Kategorie von Sachen in mein Denken einführen, sondern kann mit Recht auf ein schon bestehendes Muster zurückgreifen, in das sich der einzelne Begegnende ohne großen Widerstand einfügt. Dieses Muster ist sein Wesen.
- Das Wesen einer Sache kann aber auch bedeuten: das was sie eigentlich ist im Unterschied zu dem, was sie empirisch – der eigenen Erfahrung nach – ist oder zu sein scheint. So verstanden bezeichnet ›Wesen‹ gewissermaßen die genetische Struktur, den Bauplan oder das innerlich vorgesehene Entwicklungsgesetz für das Dasein einer Sache. Je nachdem, inwieweit die tatsächliche Existenz dem Wesen der Sache entspricht, kann sie zu ihrer ›Bestimmung‹ gelangen oder sie verfehlen. Die Pflanze hätte grünen und blühen sollen, jedoch der Boden war zu nährstoffarm, die Witterung hart und so verkam sie kümmerlich, ohne ihr inneres Potential, die in ihrem Samen vorprogrammierte Existenz zu entfalten. Ein Stuhl kann, obgleich mit großer Hingabe gestaltet, seine Funktion nicht erfüllen, wenn er unzweckmäßig konstruiert ist, etwa wenn er nur zwei Beine hat. Die dem Stuhl wesentlich zukommende Eigenschaft ist nämlich, sich darauf setzen zu können. Analog vermag gemäß diesem Konzept aber auch der Mensch zu versagen: Im Mittelalter konnten wir als Geschöpfe Gottes, mit der Ehre seiner besonderen Zuwendung bedacht, durch die ›Sünde‹ unser Wesen und damit unsere eigentliche innere Bestimmung verletzen, uns, »die wir zur Partnerschaft mit den Engeln und zur Gemeinschaft mit Gott bestimmt sind«, durch die Sünde »erniedrigen« lassen (so z.B. bei Erasmus von Rotterdam). Der Grundgedanke vom Wesen in diesem Sinne leitet sich von der antiken Ideenlehre her. Er kann zur logischen Konsequenz haben, dass etwas nicht das ist, was es eigentlich ist. Übertragen auf den Menschen bedeutet das unter anderem, dass ein Mensch unmenschlich handeln kann, was im Rahmen der obigen ersten Bedeutung gar nicht möglich wäre.
Es ist das Wesen in der zweiten Bedeutung, gegen das sich die Kritik an der ›Wesensphilosophie‹ und damit an der ›Wesenswürde‹ des Menschen richtet. In der Tat ist dieser Wesensbegriff höchst fragwürdig. Es liegt auf der Hand, wie leicht sich dieses angenommene ›innere‹ oder ›eigentliche‹ Sein ins Moralische wendet. Der Mensch sollte so sein, wie er eigentlich, wie er im Grunde doch schon immer ist. Das innere Wesen wartet gewissermaßen darauf, dass der äußerliche Mensch sich seiner besinnt, es erkennt, und daraufhin sein äußeres Sein dem Inneren angleicht. Diese Denkfigur hat große Bedeutung im Bereich der Lebensgestaltung. Sie gibt ein Erkenntnis- und Handlungsprogramm vor, an dem man sich einen ganzen Lebenslauf hindurch abarbeiten kann.
In Wahrheit aber gibt es genug Grund, an ihr zu zweifeln. Nicht zuletzt deshalb, weil die Position dieses ›Inneren‹, des ›Wesens‹ des Menschen im zweiten Sinne im Laufe der Geschichte von so vielen verschiedenen Konzepten besetzt worden ist, dass man fragen muss, wieviel Glaubwürdigkeit eine Wesensbeschreibung dieser Art wirklich haben kann. Vor allem weisen die Beschreibungen der ›Humanität‹ einen heftigen Zug zu überstiegenen Idealen, ja hin und wieder zu grellem Heiligenschein auf. Das Wesen des Menschen ist wahlweise mitfühlend, liebevoll, kreativ, ausgeglichen, selbstbewusst, vernünftig, wach – und meistens auch wertvoll.
Wir gehen an dieser Stelle einmal davon aus, dass es sich bei diesen Wesensbeschreibungen mehr um Präskriptionen denn um Deskriptionen handelt, darum, wie der Mensch sein soll, weniger darum, wie er seinem Wesen nach ist (in der ersten Bedeutung), und ganz gewiss nicht darum, wie er empirisch ist – letzteres war ja auch nie intendiert. In allen Versionen dieser Gedankenfigur gibt es ein Verhältnis des tatsächlichen zum wesentlichen Sein. Der Mensch kann sich von sich selbst entfremden, er kann in Unkenntnis seines eigentlichen Seins in die Irre gehen, sich an Äußerlichkeiten verschwenden, weil er sich selbst verkennt, er kann asozial und menschenfeindlich werden, wo er doch im Innersten seines Wesens ein Mit-Mensch ist – auch wenn er das vergessen hat –, er kann sich von der Natur abtrennen, seine Spiritualität verschütt gehen lassen, sich seine kraftvolle Primitivität abgewöhnen u.a.m.
Es geschieht auch, dass der Mensch sein Potenzial zur Vernunftausübung faktisch nicht wahrnehmen kann. Wird er deswegen seinem Wesen nicht gerecht werden? Dergleichen könnte und müsste man – was zynisch anmutet – sogar für den geistig Behinderten behaupten, den Senilen, das Kleinkind oder den Embryo. Zuletzt kann der Mensch, obgleich mit unveräußerlicher Würde ausgestattet, sich unwürdig verhalten. Es hängt von der jeweiligen Würdekonzeption ab, ob er dadurch seiner Würde verlustig geht oder ob er nur ›unter sich‹ fällt, d.h. unter den Anspruch, mit dem ihn sein eigenes Wesen konfrontiert – zu sein, was er ist. Im Fall der Würde wäre es traditionell v.a. die Achtung bzw. die Selbstachtung, die der eigenen Würde angemessen gilt.
Dieser ganze begriffliche Bau hat gemeinhin nichts von seiner Popularität eingebüßt. In den maßgeblichen gesellschaftlichen Kreisen, die mehrfach und heftig von postmodernen Dekonstruktions- und Destruktionsprojekten geläutert wurden, darf er aber als gestürzt und überrannt gelten. In seiner alten Architektur lässt er sich auch gewiss nicht mehr zu neuer Standfestigkeit errichten.
Und dennoch, so hatten wir oben festgestellt, kommt uns auch der mutige Entschluss zu Dogmatismus, Kollektivgläubigkeit, zu Konvention und Willkür philosophisch mangelhaft vor. Deshalb muss die Frage von oben noch einmal gestellt werden: In welchem Sinne gibt oder gibt es nicht so etwas wie eine dem Menschen von sich aus zukommende und sich uns von sich aus zusprechende, uns ansprechende, womöglich sogar anklagende Würde, einen Anspruch, der sich an uns richtet und sich nicht widerstandslos unserer beliebigen Reinterpretation fügt?
Damit soll das Problem angerissen sein, welches demnächst noch zu einigen gelegentlichen Denknotizen Anlass geben soll. Es besteht letztlich in der Frage, ob Menschenwürde auch heute noch überzeugend begründet werden kann, etwa als Ergebnis der freien Einsicht in das Wesen des Menschen oder der Welt, oder ob uns ein kollektiver Dogmatismus allein noch übrig bleibt, der auf jede Form rationaler Vermittlung verzichten muss. Dass die Frage ausweglos ›korrumpiert‹ ist, weil sie erweisen will, wovon sie schon ausgeht, ist nur eine der Herausforderungen, die dieser Denkweg aufbietet.
Autor: Adrian