Über die Moralisierung von Debatten. Ein kurzer Essay zur aktuellen Krise der Diskussion
Sexismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Ungerechtigkeit – Gründe, sich zu empören, gibt es genug. Der Unmut ist gerechtfertigt. Sich gegen gesellschaftliche Missstände und für ein besseres Miteinander einzusetzen, ist gewiss eines der edelsten Motive, aus denen Menschen auf die Straße gehen können. Doch obgleich das Anliegen ehrenhaft und das Engagement beeindruckend ist, kommt man nicht umhin, in der öffentlichen Diskussion dieser Tage einen »toxischen« Ton wahrzunehmen, der in nicht unerheblichem Maße auch von denjenigen bestärkt wird, die besonders entschieden gegen Ungerechtigkeit und vermeidbares Leid streiten.
Warum ist das so? Haben wir mit den anderen tatsächlich keine gemeinsame Grundlage, auf der sich debattieren ließe? Oder ist das Format ›Diskussion‹ grundsätzlich zu störungsanfällig? Immerhin kann es sich lohnen, einmal darüber nachzudenken. Die Denk- und Gesprächsform der Diskussion darf seit der Aufklärung sowohl als eine der entscheidenden Techniken des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses als auch des demokratischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsverfahrens gelten. Sie gewinnt Gestalt in parlamentarischer Rede und Gegenrede, in akademischen Zeitschriften, in der journalistischen Textproduktion und in zahllosen professionellen und privaten Gesprächen und Korrespondenzen. Gewiss sind pragmatischer Interessensausgleich und individueller Kampf um Anerkennung immer von großem Gewicht für den Ausgang dieser Art sozialer Auseinandersetzung. Aber nach wie vor sind wir dabei zentral am althergebrachten Wahrheitsideal orientiert. Wer spricht, will, dass man ihm glaubt – und meistens auch, dass man das zu Recht tut. Auch so heikle Themen wie die Aufdeckung von strukturellem Rassismus sind ihrem eigenen Anspruch gemäß an bestimmte Erkenntnisse gebunden und wollen diese mitteilen und über sie Einverständnis erzeugen. Gleichzeitig aber verunmöglicht die Praxis der kulturellen Entlarvung häufig – und das ist ein gutes Beispiel für die aktuelle Krise der Diskussion – jedweden fundamentalen Widerspruch, indem sie ihn im Vorhinein als moralisch verwerflich diskreditiert. Kann es also wider Erwarten sein, dass sich die Werte von Moral und Wahrheit oberhalb einer gewissen Ebene gegenseitig negativ beeinträchtigen? Folgende Argumente zeigen, dass und warum es sich in der Tat so verhält:
1. Jede Debatte mit dem ihr wesentlichen Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsanspruch lebt davon, dass sich die Teilnehmer trauen dürfen, sachlich zu widersprechen, ohne befürchten zu müssen, dafür persönlich-moralisch abgewertet zu werden. Keiner soll Angst haben müssen, seinerseits ›gehated‹ oder anderweitig diffamiert zu werden. Die Stellungnahmen und ›Analysen‹ seitens der political correctness leiden bei allem guten Willen aber darunter, die Gegner ihrer Position für moralisch korrumpiert zu halten, sie so darzustellen und so zu behandeln. Dass der andere mit seiner Meinung nicht nur falsch liegt, sondern dessentwegen auch – wissentlich oder unwissentlich – dem Schlechten, gar dem Bösen in der Welt dient, ist keine Haltung, die den Gesprächspartner oder seine Position noch als vollwertigen Opponenten behandelt. Man mag sich noch so tolerant gerieren, eigentlich hat man dem anderen mit dem eigenen Anspruch auf den moral higher ground bereits jede Anerkennung genommen. Selbstverständlich wähnt man sich dabei im Recht. Immerhin ist man für Gerechtigkeit, Toleranz, Diversität, gegen unnötiges Leid, Unmenschlichkeit und Verachtung, für das Gute und gegen das Schlechte. Wie könnte daran etwas verkehrt sein?
2. Man selbst kämpft, streitet, argumentiert für Gleichheit, Mitgefühl, für gerechten Zugang zu Ressourcen, Ämtern, Macht, für Mitbestimmung und für das Sichtbarwerden der Marginalisierten. Und man glaubt, damit auf der richtigen Seite zu stehen. Aber diese Überzeugung ist naiv. Ihre erstaunliche Eindeutigkeit allein sollte einen stutzig machen. Wir wissen, dass selbst unser kleiner, anthropozentrischer Kosmos ungeheuer komplex ist, dass wir unserem Geist extreme Differenzierungsanstrengungen abverlangen müssen, um den Phänomenen der Welt gerecht zu werden. Wir wissen, dass alles Handeln seinen Preis hat – oft einen, den wir im gegebenen Moment gar nicht abschätzen können –, dass das unschuldige Drehen am einen Rädchen an weit entfernten Orten des Systems katastrophale Folgen haben kann. Und nicht zuletzt wissen wir, dass beinahe alle Menschen davon ausgehen, dass sie das, was sie sehen, auch richtig sehen. Ein anderes Verhältnis zur eigenen Wahrnehmung wäre auch kaum lebbar. Wir gehen alle davon aus, dass wir im Großen und Ganzen das Richtige für das Richtige halten.
Den fiesen Bösewicht, that just wants to see the world burn, gibt es gewiss hie und da, aber der Einfluss solcher Charaktere auf das Weltgeschehen ist zu vernachlässigen. Das menschliche Denken aber strukturiert die Welt mit Hilfe von Dichotomien, gerne auch in schwarzweißer Farbgebung. Je mehr man glaubt, als Recke in silberner Rüstung oder als bescheidener Agent des Guten und Gerechten zu fungieren, desto finsterer müssen einem die widerborstigen Gesprächspartner vorkommen, die das Licht einfach nicht sehen wollen. Es kann leicht vorkommen, dass gerade die Anwälte der Diversität dem bichromatischen Farbschema verfallen, das sie so gerne ihren Gegner unterstellen. Das Weiße aber, das pure Gute, ist Einbildung – oder zumindest eine extreme Übertreibung, die nur für unsere Wunsch- und Furchtszenerien taugt. Sie generiert klar identifizierbare Feinde. Sobald wir unsere Diskussionsgegner für vom Bösen oder Kranken infizierte Verirrte halten und damit die grundsätzliche Verfasstheit des menschlichen Meinens und nicht zuletzt unserer Realität mit derjenigen Schablonen interpretieren, die in Fantasy-Welten für Ordnung und Spannung sorgt, fallen wir aber nicht nur einer fundamentalen Täuschung zum Opfer, wir geraten auch – besten Wissens und Gewissens – in den Bannkreis der Selbstgerechtigkeit, wir vereinfachen unangemessen unsere Gegner, verbauen uns damit die Möglichkeit gegenseitigen Verstehens, und verfallen in Folge dessen u.U. auch noch einer Feind-Freund-Dynamik.
3. Die moralische Anhebung des eigenen Standpunktes und Abwertung des fremden macht es unwahrscheinlich, über die sachlichen Aspekte der Meinung des Gegners ein gerechtes Urteil zu fällen. Aber die Anerkennung der Möglichkeit, dass man sich selbst täuschen und der Andere Recht haben könnte, ist die zentrale Voraussetzung für jede offene hermeneutische Dialektik. Diese formuliert mit Sicherheit einen der höchsten Ansprüche, den das Denken an die Persönlichkeit stellen kann. Und das ist keiner, dem mit Zeit und Übung einfacher beizukommen wäre – denn der »Gegner« trainiert stets auf gleichem Niveau mit. Aber nur auf diesem Weg lässt sich so etwas wie geistiger Fortschritt initiieren und bewahren. Der Neigung zum Angriff ad hominem gibt jedermann leicht nach, und wir alle tendieren dazu, wenn wir die fremde Meinung falsch finden, sogleich auch ihren Vertreter für dumm zu halten. Bis zu einem gewissen Grad muss man diese Neigung vermutlich als menschliche Eitelkeit an uns akzeptieren. Sie ist Teil der Schutzmechanik für die stets bedrohte Stabilität unseres Selbst- und Weltbildes. Dennoch hat es seinen guten Grund, warum es in akademischen, diplomatischen und kulturpolitischen Kreisen inakzeptabel bleibt, einander in Wort oder Schrift etwa mangelnde Intelligenz oder einen schlechten Charakter vorzuwerfen. Es würde jedes lösungsorientierte Miteinander ramponieren. Niemand darf auf die persönlich-moralischen Qualitäten des Gegners verweisen. Und das hat, wie gesagt, seine Berechtigung. Denn so schwer das zu akzeptieren sein mag, gilt selbst für extreme und offensichtliche Fälle: Ob der andere moralisch verwerflich handelt, ob er nun sogar Kinder verprügelt, Frauen vergewaltigt oder irgendein anderes psychopathologisches Verhalten aufweist, hat keinen Einfluss auf den Wahrheitswert seiner Aussagen. Dass der andere ein schlechter Mensch ist, macht seine Äußerungen nicht unwahr. Nichts anderes macht sogar den Kern des traditionellen Objektivitätsideals der Wissenschaften aus: dem Objekt-, also Sachbezug vor dem Personenbezug Geltung zu verschaffen. Der Gegner – auch der ›innere Gegner‹ – kann immer Recht haben, unabhängig davon, wie gut oder schlecht man ihn leiden mag oder für wie moralisch verworfen man ihn hält. Nur auf dieser Grundlage lässt sich ein wahrheitsorientierter Diskurs verwirklichen.
4. Ein psychologischer oder gesprächsstrategischer Aspekt ist ebenfalls noch beachtenswert: Hat man den Gegner mit rhetorischer Macht erst einmal moralisch diskreditiert, wird es deutlich unwahrscheinlicher, dass er sich noch von der eigenen Meinung überzeugen lässt, selbst wenn er ihr schlussendlich sachlich-argumentativ nichts mehr entgegenzusetzen hat. Denn man hat dann die Diskussion zu einem Streit, d.h. die persönliche Dimension zur entscheidenden gemacht. Mit Sicherheit sind sachliche Zugeständnisse und Einsicht in die Falschheit eigener Meinungen immer mit einem Gesichtsverlust verbunden. Unter höflichen Gesprächspartnern ist man gewohnt, dem anderen zügig die Möglichkeit zu geben, sich wieder »ins rechte Licht« zu rücken. Anders verläuft so eine Diskussion, wenn der Gegner mit der sachlichen Niederlage auch seine moralisch-persönliche eingestehen soll. Das Problem an der unbewussten Überheblichkeit vieler »linksliberaler« Beiträge zu Themen wie Rassismus, Geschlechtergerechtigkeit u.v.a.m. liegt darin, dass selbst wenn diejenigen sie lesen würden, die darin als die faktischen Träger eines strukturellen Problems gemeint sind, sie die unterschwellige Diskreditierung ihrer Persönlichkeit als dumm und böse niemals in ihr Selbstbild integrieren könnten. Das aber müssten sie, wollten sie den tonangebenden journalistischen Artikeln sachlich zustimmen. Das ist eine weitere entscheidende Stelle in der sozialen Großmechanik, an der sich Moral und Wahrheit in der Debatte gegenseitig behindern können.
5. Die Soziologie mit den sozialkritischen Impulsen, die ihre Entstehung und Entwicklung begleitet und befördert haben, stand von Anfang an im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Spätere Spezialisierungen wie die Gender Studies oder Postcolonial Studies, die sich schwerpunktmäßig mit Sexismus, Rassismus und anderen Formen struktureller Ungerechtigkeit und Unterdrückung beschäftigen, müssen diese Spannung mindestens ebenso stark verspüren. Es mag ein Phänomen des »Zeitgeistes« sein, ob der Trend eher Richtung Engagement oder Richtung Analyse geht. Zeitlos aber bleibt es eine Gefahr, die Wahrheitsfindung der Moral oder Politik unterzuordnen. Wo immer das geschieht, liegt der Verdacht des Totalitarismus nicht fern.
Man schimpft viel und gerne auf den Elfenbeinturm der Wissenschaft und lobt, wenn Erkenntnisse auch zu sozialen Verbesserungen führen oder zumindest soziale Missstände anklagen. Aber man sollte sich dessen bewusst bleiben, dass das Eigentümliche und das eigentlich Wertvolle an der Theorie nie ihre praktische Nützlichkeit oder ihre moralische Erhabenheit war. Das aristotelische theorein (θεορεῖν), das Abstandnehmen von allen praktischen und sittlichen Bezügen, das Sich-Zurücknehmen aus persönlichen Interessen, das möglichst unvoreingenommene Betrachten, Beschauen, Nachvollziehen, Verstehen und Ergründen ist ein außergewöhnlicher Modus unseres Weltverhältnisses – und zwar einer, der sich von gewieftem Herumprobieren und Experimentieren zur Problemlösung ebenso fundamental unterscheidet wie von gutem oder bösem Handeln. Nicht, wie die Welt oder ich in ihr sein soll, nicht mein Wünschen, Eingreifen, Verändern ist Thema der Theorie in Gestalt von Wissenschaft oder Philosophie, sondern das, was ist, inwieweit meine Meinungen mit diesem Seienden übereinstimmen und wo die Sachen selbst oder Widersprüche zwischen bisherigen Meinungen über sie nach Korrektur verlangen. Sobald ich aber meine Meinungen über das, was ist, von dem bestimmten lasse, was sein sollte, also von meinen Wünschen, hat das Forschen seine Wahrheitsorientierung verloren und ist korrupt geworden. So sehr also beispielsweise das Enttarnen von Strukturen der Unterdrückung auch sinnvoll und richtig ist, so wenig ist es ein erkenntnisoffenes Unternehmen. Stattdessen handelt es sich um eine intellektuelle Agenda, deren Ergebnis im Grunde von Anfang an fest steht. Bei ihr geht es nur noch darum, die Masse des Materials zu sichten und durchzuarbeiten. Aber es wäre ratsam, sich bewusst zu bleiben, dass keine eigentliche Wahrheitsfindung mehr angestrebt wird, wenn fundamentaler Widerspruch ausgeschlossen ist. Ungerechtigkeit ist keine reine Diagnose. Wir nehmen sie unmittelbar wahr, wir leiden selbst unter ihr oder fühlen mit dem Schicksal anderer. Aber diese Empfindung nimmt uns nicht die Freiheit, uns in letzter Instanz beliebig zu ihr zu verhalten. Das Leid ist ex negativo nur Anlass und Verstärkung für unseren Wunsch nach Gerechtigkeit. Wir lassen es zu, dass der psychische Reiz sich zu einem normativen Maßstab ausweitet, dass er ein Spannungsfeld von Gut und Schlecht aufbaut. Die Binarität von Soll-Sein/Soll-nicht-Sein leitet den Blick auf das, was ist und bringt es unter ihre Perspektive. Diese unterscheidet sich grundsätzlich von dem forschenden Blick, der die Dinge unabhängig davon zu sehen versucht, wie wir sie gerne oder ungerne hätten, unabhängig von unseren aktuellen Interessen, unseren Normen, Werten, Wünschen oder Ängsten.
Beide Möglichkeiten sind fraglos von enormer Bedeutung und kulturell tief in unserem Weltbild verankert, etwa in der genannten Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis. Aber wir dürfen sie nicht miteinander verwechseln oder allzu leichtfertig vermischen. Es handelt sich nicht nur um zwei unterschiedliche Verhaltensweisen, sondern um zwei grundsätzlich verschiedene Modi des Sehens und Wertens. Deshalb ist das Verdikt »Ungerechtigkeit« nicht nur eine Feststellung, sondern ein Vorwurf. Dessen sollte man sich – insbesondere als Journalist oder Wissenschaftler – bewusst bleiben. Jemanden von der eigenen Meinung zu überzeugen, ist keine »Aufklärungsarbeit«. Und jemand, der Strukturen der Unterdrückung anprangert, ist nicht der Wahrheit näher, ist nicht »woke«, »erwacht«, während andere noch schlafen, er sieht nicht mehr Wahres, sondern mehr von dem, was seinem eigenen Normensystem ent- und was widerspricht.
Die altgriechische kalokagathía (καλοκαγαθίᾱ), die Einheit von Wahrem, Gutem und Schönem ist auf ontologischer Ebene unhaltbar. Sie suggeriert überdies eine scharfe Unzweideutigkeit in der Entscheidung darüber, was das wahrhaft Richtige sei, der weder »das menschliche Herz« noch »die Welt« je entsprechen können, ohne grotesk verzerrt zu werden. Wir täuschen uns, wenn wir meinen, unsere Gegner in den aktuellen moralischen Debatten seien dumm oder böse, wir täuschen uns, wenn wir unsere Werte und Wünsche für die Wahrheit und das wahrhaft Gute halten, und wir täuschen uns, wenn wir meinen, auf der Seite der Guten und Gerechten zu stehen, nur weil wir uns nach Kräften um das Gute und Gerechte bemühen. Es gibt ist ein erhebliches Maß an Ambiguität, das wir uns zumuten müssen. Aber nur durch diese Zumutung können wir der aktuellen Krise der Diskussion und dem wachsenden Unverständnis der kulturellen Lager füreinander effektiv entgegen wirken.
Sich für moralisch überlegen zu halten, ist dafür weder hilfreich noch sachlich angemessen. So viel dürfen wir bei aller epistemischer Vorsicht aus dem empirischen Material entnehmen, das mittlerweile 130 Jahren psychoanalytischer Praxis angehäuft haben, dass die psychischen Motive unseres Handelns nie so rein, moralisch und eindeutig sind, wie sie uns vorkommen. Ein aufrichtiger Blick auf die dubiose Zwielichtigkeit unseres eigenen Seelenlebens ist nicht nur ein ratsames Korrektiv gegen allzu eindimensionale Selbstporträts, er lehrt auch, dass wir selbst im Grunde mindestens ebenso uneindeutig sind wie es die Welt ist. Diese Einsicht in das »Fremde im Eigenen« ist der Schlüssel zur Öffnung einer sich zusehends gefährlich verschließenden Situation. Nicht die anderen müssen zum Umdenken »bewegt« werden, sondern wir selbst müssen wieder beweglicher werden. Damit das Argument erneut eine Chance bekommt. Damit wir wieder miteinander reden können.